Das Gleichgewicht herauszufordern ist eine zentrale Aufgabe vieler sportlicher Bewegungsformen und Teil der kindlichen Entwicklung. Ersten Herausforderungen stellen sich Kleinkinder bereits beim Laufenlernen, an Balancierlandschaften auf Spielplätzen oder beim Spiel „Keiner-darf-den-Boden-berühren“ im Wohnzimmer: „Hey, floor is lava!“. Bei den meisten Trendsportarten wie Skifahren, Waveboarden etc. steht das Spiel um das Gleichgewicht im Zentrum (vgl. Krick, Walther, 2011). Aber auch bei klassischen Sportarten wie Turnen oder Fußball gilt eine gute Gleichgewichtsfähigkeit allgemein vorteilhaft zu sein.
Einige im WIMASU-Team lieben es, ihr Gleichgewicht immer wieder auf die Probe zu stellen. Daher lag es nahe, dass wir uns in diesem Artikel mit der Gleichgewichtsfähigkeit vor dem Konzept der Koordinativen Fähigkeiten beschäftigten. Und nun hock’ dich einbeinig auf deinen Stuhl, halte den Text über den Kopf und lies den nächsten Absatz. Viel Spaß! Download
Gleichgewicht – Was ist das?
„Gleichgewicht“ ist ein Zustand, bei dem sich auf den Körper einwirkende und diesem entgegengesetzte Kräfte gegenseitig aufheben. Beim Stehen auf einem Bein wirkt die Erdanziehungskraft auf den Körperschwerpunkt. Die Aufgabe ist es, den Schwerpunkt über der geringen Standfläche der einen Fußsohle zu halten. Wandert der Schwerpunkt außerhalb der Standfläche, so verlieren wir das Gleichgewicht und fallen um bzw. müssen einen Schritt zur Seite machen. Beim Kurvenfahren auf einem Ski sind die wirkenden Kräfte ungleich komplexer. Dennoch schaffen wir es, mit einem guten Körpergefühl und Erfahrung auch solche komplexen, sich ständig ändernden Situationen in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten. Es ist erstaunlich, wie der Mensch auch mit solchen komplexen Gleichgewichtsanforderungen umgehen lernen kann. Die Gleichgewichtsfähigkeit ist die Fähigkeit, unseren Körper im Gleichgewicht zu halten oder ihn bei Lage-, Körperschwerpunktveränderungen, Krafteinflüssen, veränderten Umgebungseinflüssen etc. wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Eine gute Gleichgewichtsfähigkeit reduziert die Häufigkeit bzw. das Ausmaß von Situationen des „Aus-dem-Gleichgewicht-Kommens“ und leistet somit einen Beitrag zur erhöhten sportlichen Leistungsfähigkeit, zu einem besseren Bewegungsgefühl und zur Unfall- bzw. Sturzprophylaxe (zsf. Weineck, 2002, 540).
Davon abgegrenzt werden muss das Objektgleichgewicht, bei dem es darum geht, bewegliche Objekte durch seinen Körper oder einzelne Körperteile in einer bestimmten Position zu halten.
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Das Konzept der koordinativen Fähigkeiten am Beispiel der Gleichgewichtsfähigkeit
Mit Hilfe des Konzepts der „Koordination“ lässt sich bspw. erklären, warum „gute“ Sportlerinnen und Sportler neue Bewegungen schneller erlernen als andere, indem Dinge von einer in eine andere Sportart übertragen werden. So ist bspw. davon auszugehen, dass eine Person mit Erfahrungen im Inline-Skaten schneller Schlittschuhlaufen erlernt als eine Person, die lediglich Erfahrungen im Fußball hat. Umgekehrt hilft Inline-Skaten für die Spielfähigkeit im Basketball weniger als Vorerfahrungen im Fußball.
Was genau sind koordinative Fähigkeiten?
Koordination lässt sich im Gegensatz zur Kondition wie bspw. die Ausdauerleistung, die in der Schule gerne über den Cooper-Test sichtbar gemacht wird, nicht an der Darbietung einzelner Techniken erkennen (latentes Konstrukt), sondern stellt leistungsübergreifende Voraussetzungen dar (vgl. Stein & Hossner, 2017, 41). Ein in Deutschland verbreitetes Konzept, die koordinativen Fähigkeiten zu strukturieren, entwarf Blume (1978). Es umfasst neben Differenzierungs-, Orientierungs-, Reaktions-, Kopplungs-, Rhythmisierungs- und Umstellungsfähigkeit die Gleichgewichtsfähigkeit als Dimensionen der koordinativen Fähigkeiten.
Insbesondere in der Praxis hat es sich etabliert, nach diesem Schema Übungen zum Training der allgemeinen koordinativen Fähigkeiten zusammenzustellen. Allerdings ist es mittlerweile erwiesen, dass sich koordinative Fähigkeiten fertigkeitsspezifisch und nicht fertigkeitsübergreifend entwickeln (Schmidt & Lee, 2011 zit. nach Stein & Hossner, 2017). Nimmt man das zweifellos gute Gleichgewichtskönnen eines Einradfahrers oder einer Einradfahrerin, heißt es nicht, dass diese auch direkt auf einer Slackline laufen können. Die Fertigkeiten „Einradfahren“ vs. „Slacklinen“ sind zu verschieden, um hier eine direkte Übertragbarkeit allgemeinen Gleichgewichtskönnens auf spezifisches Bewegungskönnen „Slacklinen“ zu ermöglichen.
Dennoch lässt sich festhalten, dass es Übertragungsvorteile von Erfahrungen in ähnlichen motorischen Aufgaben (Modulen) gibt und diese sind glücklicherweise a) tendenziell positiv, wenn auch gering und b) umso größer je enger die Verwandtschaft der Bewegungen ist (vgl. Stein & Hossner, 2017, 244).
Dimensionen der Gleichgewichtsfähigkeit
Schaut man sich Bewegungen an, die an das Gleichgewicht ähnliche Aufgaben stellen, lässt sich eine Unterteilung der Gleichgewichtsfähigkeit in Stand-, Balancier-, Dreh- und Fluggleichgewicht (Hirtz, 2000) treffen.
Als Standgleichgewicht wird der Erhalt des Gleichgewichts bei Bewegungen an der Stelle ohne eine Ortsveränderung bezeichnet, wie sie z. B. für den bloßen sicheren Stand auf einem ruhenden stabilen Gegenstand wie bspw. einem Schwebebalken nötig ist. Gleichzeitig gehören jedoch sowohl das Gleichgewicht auf einem ruhenden labilen und nicht körperverbundenen Untergrund (wie z. B. ein Wackelbrett oder eine Slackline).
Wird das Körpergleichgewicht nach Bewegungen im Raum wiederhergestellt und findet gleichzeitig eine Ortsveränderung statt, wird dies als Balanciergleichgewicht bezeichnet. Es kommt bei sehr vielen Bewegungen zum Tragen. Z. B. fallen alle Sportarten darunter, bei denen der Körper mit einem labilen und sich bewegenden Gerät (wie z. B. einem Fahrrad, Inlineskates, Schlittschuhen, Skiern oder einem Snowboard) verbunden ist.
Muss das Gleichgewicht bei Drehungen um die verschiedenen Körperachsen hergestellt oder erhalten werden, wird von Drehgleichgewicht gesprochen. Neben dem Tanzen, Diskus- und Hammerwerfen, Bodenturnen oder Trampolinspringen ist dieses Drehgleichgewicht in vielen Sportarten mit hohem Akrobatikanteil wichtig.
Kommt es zum Erhalt oder zur Wiederherstellung des Körpergewichts nach und in einer stützlosen Phase, wird vom Fluggleichgewicht gesprochen. Im Turnen, bei Sprungwürfen im Handball, im Le Parkour, Wasserspringen oder in der Leichtathletik ist dieses Gleichgewicht unabdingbar.
Vermittlung von Gleichgewichtsfähigkeiten im Sportunterricht
Vermittlungswege sollten anfangs wahrnehmungsorientiert (Schulung der Analysatoren (s.o.)) und anschließend fertigkeitsorientiert (Schulung von standardisierten Übungen) oder fähigkeitsorientiert (Schulung von Varianten unter unterschiedlichen Bedingungen) sein, sollten jedoch im Rahmen einer Einheit schlussendlich in kompetenzorientierten, ganzheitlichen, komplexen und alltagsnahen Aufgaben münden. Nur so kann gehofft werden, dass vielfältige Gleichgewichtskompetenzen für unterschiedliche, auch sportartunabhängige, Bewegungssituationen zur Verfügung stehen (vgl. Hirtz, 2000).
Beim fordernden Balancieren bleibt im Rahmen des Übungsprozesses der unfreiwillige Abgang von Gerät, das „Herunterfallen“ nicht aus. Zum angstfreien Umgang mit reizvollen Gleichgewichtsübungen gehört daher neben einer ordentlichen Absicherung mit Matten ein positives Lernklima, in dem mit Wagnissen freiwillig und behutsam umgegangen wird (vgl. Neumann, 2017).
Zudem ist die „helfende Hand“ beim „Im-Gleichgewicht-bleiben“ oft die erste Möglichkeit für ganzheitliche Erfahrungen und somit ein probates Mittel, um direkt auszuprobieren.
Differenzierung durch kreative Übungen
Die Abbildung “Differenzierungsmöglichkeiten zur Gestaltung von Aufbauten und Materialien zur Ausbildung von Gleichgewichtskompetenzen” (nach Hirtz 2000, Balster 2003)) verdeutlicht, welche progressiven Möglichkeiten zur Variation und Gestaltung einzelner Gleichgewichtsübungen und Stationen genutzt bzw. bedacht werden können.
Man merkt recht schnell, dass der Differenzierung an Gleichgewichtsstationen keine Grenzen gesetzt sind. Auf die Spitze getrieben wird dieses „Training“ innerhalb des Konzepts „Life Kinetik“ (https://www.youtube.com/watch?v=Y8ZhPXL5X4w).
Ausblick und Werbung in eigener Sache
Viele Übungs- und Aufbauideen liefern wir in unserem Material zum Gleichgewicht. Häufig reicht ein kleiner Aufbau von ein paar Turnbänken und viele herausfordernde Bewegungsprobleme für das Gleichgewicht bietet sich ohne zusätzliche, externe Anregungen dar. Darüber zu balancieren ist einfach reizvoll. Manchmal erschließt sich die Herausforderung nicht direkt durch die aufgebauten Gegenstände und erst gezielte Aufgabenstellungen sind notwendig: Z.B. „Hocke dich auf den Gymnastikball“. Der Kern des kostenpflichtigen Materials ist daher eine Sammlung von bereits erprobten Aufbau- und Aufgabenkarten, die darauf warten ausprobiert und verändert zu werden. Die besten Übungen sind sicher noch nicht erfunden. Wir sind gespannt!
Literatur
Balster, K., Schilf, F., Alefelder, B. (2003). Kompetenzen von Kindern erkennen: prakt. Instrumentarien zur Feststellung von Kompetenzen d. Sensomotorik, Graphomotorik, Schriftsprache u. Mathematik bei 5- bis 12-jährigen Kindern. Sportjugend im Landes Sport Bund Nordrhein-Westfalen.
Beigel, D. (2009). Bildung kommt ins Gleichgewicht. Dortmund: borgmann media.
Blume, D. D. (1978). Zu einigen wesentlichen Grundpositionen für die Untersuchung der koordinativen Fähigkeiten. Theorie und Praxis der Körperkultur, 27 (Beiheft 1), 29-36.
Fetz, F. (1990). Sensomotorisches Gleichgewicht im Sport. Wien: Österreichischer Bundesverlag.
Hirtz, P., Hotz, A. & Ludwig, G. (2000). Gleichgewicht. Schorndorf: Hofmann
Stein, T. & Hossner, E. (2017). Koordination und Koordinationstraining (Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport). Handbuch Trainingswissenschaft – Trainingslehre (S. 240–262). Schorndorf: Hofmann.
Walther, C. & Krick, F. (2011). Rollen, Gleiten, Fahren – Rollsport und Wintersport. In V. Scheid & R. Prohl (Hrsg.), Sportdidaktik. Grundlagen Vermittlungsformen Bewegungsfelder (S. 254–273). Wiebelsheim: Limpert Verlag.
Weineck, J. (2002). Optimales Training: Leistungsphysiologische Trainingslehre unter besonderer Berücksichtigung des Kinder- und Jugendtrainings (12. Aufl.). Balingen: Spitta-Verl.
Dieses Dokument zitieren:
Veit, J., Walther, Ch. & Wittek, M. (2020). Die Gleichgewichtsfähigkeit für den Sportunterricht analysiert. Zugriff am DATUM unter https://wimasu.de/gleichgewicht
Invalid download ID.Die Autoren
Christoph Walther (Dr.) und Janes Veit sind die Gründer von WIMASU und auch auf einem Bein leidenschaftliche Sportlehrer. Eine Kartei zur Gleichgewichtsfähigkeit haben wir schon lange im Sinn und hier unsere Erfahrungen aus vielen Jahren Kinderturnen, Sportunterricht und eigenen Bewegungen zusammengetragen.
Markus Wittek ist Sekundarschullehrer an einer Schule im Aufbau für die Fächer Sport, Biologie und Chemie. Als Projektkoordinator ist Markus immer auf der Suche nach Optimierungen und Verbesserungen am liebsten in vielen Projekten gleichzeitig.
Impressum
Redaktionsleitung: Jonas Wibowo
Illustration: Nao Matsuyama
Herausgeber: Jonas Wibowo, Christoph Walther & Janes Veit
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