Grundidee, Gestaltungsmöglichkeiten und ein Beispiel aus der Praxis
In den Ohren vieler Sportlehrkräfte klingen Begriffe, wie Mehrperspektivität oder mehrperspektivischer Unterricht, akademisch und nicht gerade nach originellen Praxisideen. Vermutlich haben einige im Rahmen ihres Studiums zwar schon etwas über mehrperspektivischen Sportunterricht gehört oder gelesen und im Referendariat auch mehrperspektivisch unterrichtet, doch im schulischen Alltag bleibt der mehrperspektivische Sportunterricht irgendwie auf der Strecke (Neumann, 2018; 2017; Neumann & Landsgesell, 2022).
Den Artikel kannst du hier als PDF Datei runterladen.
Neumann / Weber (2023) Mehrpespektivischer Sportunterricht als PDF downloadenUm diese – in unseren Augen – suboptimale Situation zu verbessern, wollen wir zunächst die Idee mehrperspektivischen Sportunterrichts kurz umreißen (1) und dann unterschiedliche Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung vorstellen (2). Abschließend führen wir diese Überlegungen an einem mehrperspektivischen Unterrichtsbeispiel aus (3). Zusammengefasst: Wir möchten diese Idee bewerben und zeigen Wege zum mehrperspektivischen Sportunterricht auf.
1 | ZUR GRUNDIDEE MEHRPERSPEKTIVISCHEN SPORTUNTERRICHTS
Die Idee mehrperspektivischen Unterrichts lässt sich kurz und bündig so beschreiben: Zeige den Schüler:innen im Sportunterricht den jeweiligen Unterrichtsgegenstand aus mehreren (z.B. zwei) Perspektiven!
Didaktisch intendiert wird damit ein besonderer Lerneffekt: Im Prozess des Perspektivenwechsels sollen die Schüler:innen ihnen – vielleicht – unbekannte Erfahrungen mit dem Gegenstand machen und neue Einsichten gewinnen. Zudem sollen und können sie erkennen, dass sich ein Gegenstand je nach Wahl des Standortes perspektivisch verändert.
Im Laufe der Entwicklung mehrperspektivischen Sportunterrichts wurden verschiedene Perspektivenmodelle und konzeptionelle Begründungen vorgelegt (Neumann, 2019). Besondere Bedeutung und Beachtung hat dabei die sinngeleitete Perspektivierung des Sports nach Kurz (1990) gefunden: Im Sportunterricht sollen die Schüler:innen lernen, den Sport nach eigenen subjektiven Bedürfnissen sinnvoll auszuwählen und auszuüben. Zu diesem Zweck sollen sechs verschiedene Sinnperspektiven (Leistung, Gesundheit, Ausdruck, Eindruck, Wagnis, Miteinander) von den Schüler:innen exemplarisch erlebt und reflektiert werden.
Ausgehend von diesen Perspektiven, wurden um das Jahr 2000 die pädagogischen Perspektiven konstruiert, um pädagogische Fördermöglichkeiten deutlicher zu markieren:
Mehrperspektivischer Unterricht erweitert den Fokus eines sportmotorisch ausgerichteten Sportunterrichts dahingehend, dass die Schüler:innen auch lernen sollen, Sport besser zu verstehen und zu beurteilen. Angesichts dieses pädagogischen Anspruchs ist eine rein rhetorische Bezugnahme im Sportunterricht auf eine Perspektive zu kritisieren.
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Lehrkraft die Meinung vertritt, dass beim Fußball im Sportunterricht doch automatisch die Perspektiven Leistung und Miteinander abdeckt werden würden, weil es beim Fußball ja um das Gewinnen und das Spielen in Mannschaften gehe.
2 | WEGE UND MÖGLICHKEITEN MEHRPERSPEKTIVISCHER GESTALTUNG DES SPORTUNTERRICHTS
Mehrperspektivität kann den Sportunterricht auf drei unterschiedlichen Wegen bereichern: Erstens können sportliche Aktivitäten (z. B. Weitsprung) mehrperspektivisch ausgelegt werden. Zweitens kann ein sportliches Handlungsfeld (z. B. Schwimmen) mehrperspektivisch gedeutet werden. Drittens kann das Sportcurriculum mehrperspektivisch gestaltet werden.
Weil es auf Seiten der Lehrkräfte jedoch immer wieder Fragen gibt, wann Sportunterricht als mehrperspektivisch anzusehen ist, kommentieren wir dazu drei idealtypische Beispiele mehrperspektivischen Unterrichts:
- 1. Eine Sportlehrkraft will den Schüler:innen die Sinnvielfalt des Laufens zeigen. Dazu bietet sie das Laufen in einer Unterrichtseinheit u. a. als Wettlauf (Leistung), als Orientierungslauf (Wagnis) und abschließend als Jogginglauf (Gesundheit) an.
Kommentar zu (1):
Dieser Unterricht ist vom Grundgedanken her mehrperspektivisch: Den Schüler:innen wird gezeigt, dass und wie verschiedene motivationale Sinngebungen das Erleben einer sportlichen Aktivität (z. B. Laufen) verändern können. Fraglich ist für uns allerdings, inwieweit der schnelle Wechsel der Sinngebungen die Schüler:innen irritiert und verwirrt.
- 2. Eine Sportlehrkraft will den Schüler:innen die Sinnvielfalt des Sports zeigen. Sie berücksichtigt dazu jeweils eine Sportart, die ihrer Meinung nach eine Sinnperspektive idealtypisch repräsentiert: Beispielsweise wird das Klettern exemplarisch für die Wagnisperspektive und Leichtathletik exemplarisch für die Leistungsperspektive ausgewählt.
Kommentar zu (2):
Dieser Unterricht ist vom Grundgedanken her ebenfalls mehrperspektivisch: Den Schüler:innen wird gezeigt, dass und wie motivationale Sinngebungen das Handeln im Sport bestimmen können. Fraglich ist für uns allerdings, inwieweit die exemplarische Zuweisung einer Sinngebung zu einer Sportart pädagogisch sinnvoll ist. Denn den Schüler:innen wird mit diesem Vorgehen suggeriert, dass es feste Sinnzuordnungen im Sport tatsächlich gibt. Ein solcher Unterricht liefe damit prinzipiell Gefahr, den Schüler:innen einen Perspektivenwechsel vorzuenthalten.
- 3. Eine Sportlehrkraft will den motorischen Kompetenzerwerb mit einer Entwicklungsförderung kombinieren. Sie stellt ihren Schüler:innen die Aufgabe, im Rahmen einer Step-Aerobic-Choreografie Kriterien geleitet Bewegungen zu erarbeiten und den Übungsprozess kooperativ und ausgrenzungsfrei zu gestalten. Dabei orientiert sie sich an den pädagogischen Perspektiven „kooperieren, wettkämpfen und sich verständigen“ sowie „sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten“.
Kommentar zu (3):
Dieser Unterricht stellt unserer Meinung nach den „Gold-Standard“ mehrperspektivischen Sportunterrichts dar: Neben der motorischen Auseinandersetzung und Aneignung stehen entwicklungsförderliche Ziele (hier: Förderung kooperativen Verhaltens) im Vordergrund.
Für perspektivische Unterrichtsreihen hat es sich aus unterrichtspraktischer Sicht als günstig erwiesen, wenn Sportlehrkräfte mit den Schüler:innen gemeinsam klären, unter welcher Zielstellung (Perspektive) der jeweilige Gegenstand im Sportunterricht behandelt werden soll (Schweihofen, 2004). Dienlich ist es, an den Vorerfahrungen und Erwartungen der Schüler:innen anzusetzen und die grundlegenden psychologischen Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Integration nicht zu frustrieren (Neumann & Weber, 2023).
Auf der Ebene des unterrichtlichen Handelns haben sich dazu drei Inszenierungsmöglichkeiten herauskristallisiert: die Perspektivenintegration, die Perspektivenkontrastierung und die Perspektivenakzentuierung. Vor allem das Akzentuieren (die Betonung) einer Perspektive ist unterrichtsdidaktisch und unterrichtspraktisch eine bewährte Möglichkeit, mehrperspektivischen Sportunterricht im schulischen Alltag umzusetzen. Dabei geht es um das Erschließen und Verfolgen einer ausgewählten Perspektive (Balz, 2022).
3 | PERSPEKTIVWECHSEL ANBAHNEN: VOM MITEINANDER ZUM GEGENEINANDER UND WIEDER ZURÜCK?
Die pädagogische Perspektive „kooperieren, wettkämpfen und sich verständigen“ zählt zu den von Lehrkräften häufig genannten Perspektiven im Sportunterricht. Das didaktisch Besondere an dieser Perspektive liegt in unseren Augen in der Möglichkeit, einen internen Perspektivenwechsel zu thematisieren. So können die Schüler:innen ihr Handeln unter den Bedingungen von Konkurrenz (gegeneinander) oder von Kooperation (miteinander) erleben und reflektieren. Dies wollen wir an einem Unterrichtsbeispiel verdeutlichen.
Ein Wechsel der Perspektiven setzt auf Seiten der Schüler:innen voraus, dass sie in der Lage sind, ihre gewohnte Perspektive auf sportliches Handeln zu verlassen, um eine andere Perspektive einzunehmen. Dass die Erfüllung dieser Bedingung weder selbstverständlich ist noch immer gelingt, wissen viele Sportlehrkräfte aus Erfahrung, wenn sie im Sportunterricht beispielsweise Badminton spielen. Denn nicht alle Schüler:innen haben das Bedürfnis, gegeneinander zu spielen. Einige spielen lieber Federballspiel und haben mehr Freude an längeren Ballstafetten als an Konkurrenz und Überbietung.
1Das Badmintonspielabzeichens des Deutschen Badmintonverbands ist unter folgendem Link zu finden: https://www.badminton.nrw/fileadmin/Dateien/Broschueren-Hefte/Breitensport/Schulsport/
Flyer_RBS_Spielabzeichen.pdf
Ein Wechsel der Perspektiven setzt auf Seiten der Schüler:innen voraus, dass sie in der Lage sind, ihre gewohnte Perspektive auf sportliches Handeln zu verlassen, um eine andere Perspektive einzunehmen. Dass die Erfüllung dieser Bedingung weder selbstverständlich ist noch immer gelingt, wissen viele Sportlehrkräfte aus Erfahrung, wenn sie im Sportunterricht beispielsweise Badminton spielen. Denn nicht alle Schüler:innen haben das Bedürfnis, gegeneinander zu spielen. Einige spielen lieber Federballspiel und haben mehr Freude an längeren Ballstafetten als an Konkurrenz und Überbietung.
Idee unserer Unterrichtsreihe ist es, den Schüler:innen nachvollziehbar und erfahrbar zu machen, dass die Wahl eines Gütemaßstabes ihr Bewegungshandeln maßgeblich bestimmt und verändert. Dazu lernen die Schüler:innen zwei Formen eines Rückschlagspiels kennen
(Federball + Badminton), erproben diese und erweitern ihr motorisches Können. Abschließend können und sollen sie sich begründet für eine Spielform entscheiden. Auch wenn die Schüler:innen im Vorfeld der Unterrichtsreihe möglichweise schon Präferenzen für das Miteinander oder das Gegeneinander entwickelt haben, sollen sie in beide Spielformen eingeführt werden. Zur Orienierung ihres Handelns stehen zwei Fragen im Mittelpunkt:
- 1. Wie schlagen wir den Ball, damit wir ihn möglichst oft hin- und her spielen können, ohne dass er dabei auf den Boden fällt?
- 2. Wie schlagen wir den Ball, wenn wir gegeneinander spielen?
Wir verzichten dabei auf einen massierten oder isolierten Technikerwerb und betonen das gemeinsame Spielen mit wechselnden Spielpartner:innen sowie das situative Üben bei Spielproblemen. Die Einführung und der Erwerb bestimmter Schlagtechniken oder taktischer
Grundoperationen stehen bei uns in einem funktionalen Zusammenhang mit der jeweils verfolgten Spielidee. Deshalb werden die Spiel- und Übungsphasen ergänzt von kurzen Reflexionsgesprächen zum qualitativen Erleben der jeweiligen Spielform. Auf der Basis ihrer Erfahrungen im Unterrichtsverlauf und ihrer persönlichen Neigungen, aber auch unter Berücksichtigung eines ermittelten Leistungsstandes („score“) sollen sich die
Schüler:innen dann in der fünften Doppelstunde entweder für das Federball- oder für das Badmintonspielen entscheiden. Anschließend wird die Turnierform „Pyramidenturnier“ auf Neigungsfeldern gespielt, um diese den Schüler:innen bekannt zu machen.
In der abschließenden Doppelstunde wird ein Badminton-/Federballturnier absolviert. Zunächst begründen die Schüler:innen ihre Entscheidung für oder gegen Federball bzw. Badminton schriftlich. Anschließend spielen sie in der eingeführten Turnierform entweder Badminton (gegeneinander) oder Federball (miteinander). Während des Spielens vergibt die Lehrkraft eine Spielnote in Anlehnung an die Anforderungen beim Mitspielen:
AUSBLICK
Seitdem in der Fachdidaktik vor ungefähr 50 Jahren der Gedanke aufgenommen worden ist, Sportunterricht an unterschiedlichen Perspektiven zu orientieren, haben sich verschiedene Varianten mehrperspektivischen Sportunterrichts entwickelt und sich zumindest in der Fachwissenschaft etabliert (Neumann, 2019). Im Kern geht es darum, das Lernen der Schüler:innen durch einen Wechsel der Perspektiven auf den Sport anzuregen. Die konkrete Auswahl und Ausgestaltung der jeweiligen Perspektiven ist dabei abhängig von den Voraussetzungen der Schüler:innen, den unterrichtlichen Zielen und von den fachlichen Überzeugungen der Lehrkräfte.
Literaturverzeichnis
Balz. E. (2022). Sportunterricht mehrperspektivisch planen. In E. Balz & P. Neumann (Hrsg.), Mehrperspektivischer Sportunterricht. Evaluation und Innovation (S. 53-66). Hofmann.
Neumann, P. (2019). Quo vadis mehrperspektivischer Sportunterricht? In E. Balz (Hrsg.), Arbeitsbereich Sportpädagogik (S. 11-20). Shaker.
Neumann, P. (2018). Mehrperspektivischer Sportunterricht: ein Phantom der Schulsportpraxis? sportunterricht, 67 (7), 290-296.
Neumann, P. (2017). Mehrperspektivischer Sportunterricht – Faktum oder Fiktion? Sport-INFO, 45, 3-8.
Neumann, P. (2010). Perspektivierung im Sportunterricht – kritische Zwischenfragen auf der Ebene unterrichtlichen Handelns. In P. Frei & S. Körner (Hrsg.), Ungewissheit. Sportpädagogische Felder im Wandel (S. 104-110). Czwalina.
Neumann, P. & Weber, T. (2023). Nicht-Interesse von Schüler:innen im Sportunterricht. „Dazu haben wir keine Lust – können wir nicht was Anderes machen?“ Wimasu Wissen.
Schweihofen, C. (2004). Ein Thema finden – Beispiele von Einführungsstunden in mehrperspektivisch angelegten Unterrichtsreihen im Schulsport. In P. Neumann & E. Balz (Hrsg.), Mehrperspektivischer Sportunterricht. Orientierungen und Beispiele (S. 104-116). Schorndorf.
Die Autoren
Peter Neumann (1965) ist Sportlehrer gewesen und derzeit Professor für Sportpädagogik an der PH Heidelberg. Er hat viele praxisbezogene Beiträge (Frisbee, Klettern, Roller, Kleine Spiele, Trendsport) und didaktische Texte u. a. zum mehrperspektivischen Sportunterricht veröffentlicht. Persönlich und beruflich faszinieren ihn wagnisbezogene Sportarten, wie Bouldern, Klettern und Mountainbiken.
Timo Weber ist akademischer Mitarbeiter in der Abteilung Sportwissenschaft/Sportpädagogik an der PH in Heidelberg. Aktuell beschäftigt er sich vertieft mit dem Blickwinkel von nicht-interessierten Schüler:innen auf den Sportunterricht sowie mit der Vermittlung von (Mini-)Fußball im Sportunterricht. In seiner Freizeit spielt er aktiv Fußball, geht regelmäßig Tennis spielen oder sucht ein Schwimmbad auf.
Impressum
Dieses Dokument korrekt zitieren:
Neumann, P. & Weber, T. (2023). Mehrperspektiver Sportunterricht. Grundidee, Gestaltungsmöglichkeiten und ein Beispiel aus der Praxis. Zugriff am 30.12.2024 unter https://wimasu.de/mehrpespektivischer-sportunterricht-wimasu__trashed/
Redaktion und Herausgeberschaft: Janes Veit und Christoph Walther
Illustrationen/Grafiken: Julia Schäfer, Nao Matsuyama