Die Olympischen Winterspiele in Peking sind zu Ende. Lob an alle, die den Fernseher gar nicht eingeschaltet und sich stattdessen für Menschenrechte eingesetzt haben. Allerdings sind bei der Olympiade ja die Besten ihrer Sportart zu sehen. Das ist schon sehr faszinierend. Wenn man wissen möchte, wie Menschen am allerbesten schnell übers Eis kommen oder mit dem Snowboard spektakulär einen Hang hinunter, dann lohnt es sich schon mal einzuschalten. Gerade die Zeitlupenstudien verraten, wie die Anatomie des Menschen für diese zweckfreien Kapriolen am besten einzusetzen ist. Kurzum: Hier werden Sportarten perfekt demonstriert. Und das führt mich zum heute sportdidaktischen Thema: Demonstrationsfähigkeit.
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Bindel T. (2022) Demonstrieren... als PDF downloadenEin sportdidaktisches Denkmal wird beschmutzt
Aus Sicht eines Hochschullehrers kann ich sagen: Das Konzept, das angehende Lehrkräfte etwas vormachen müssen, legitimiert zu einem großen Teil die praktischen Bereiche ihrer universitären Ausbildung und schützt den Studiengang vor einer Reduktion auf das rein kognitiv Vermittelbare. Und aus den Fachseminaren dringt zum Elfenbeinturm die Nachricht, dass die sportliche Leistung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer und damit verbunden auch ihr Know-How in der Demonstration nachlasse. Es kriege ja kaum noch einer einen richtigen Diskurswurf hin, womit dieser Inhalt dann – der Argumentation folgend – nicht mehr vermittelbar ist.
Und da fühle ich mich dann als Instituts- und Studiengangsleiter ein bisschen angegriffen und möchte mich vor die Studierenden stellen, deren Kugel bei 6 Meter 50 Metern einschlägt oder deren Korbleger irgendwie nicht so aussehen wie bei den Lakers.
Bindel, 2022
Diese Menschen werden Sportlehrerinnen und Sportlehrer und sie werden das gut machen! Jedenfalls bin ich mir sicher, dass die Qualität ihres Unterrichts nicht in direkter Verbindung zu ihrer sportpraktischen Leistungsfähigkeit steht. Ich werde in diesem Kolumnenteil wohl das Denkmal der Demonstrationsfähigkeit ein bisschen beschmutzen müssen. Keine Angst, es bleibt ebenso stehen wie die Sporthallen auf dem Campus und am Ende könnte es sogar ein bisschen cooler aussehen als vorher.
Tut Demonstration Not?
Frage: Spielt ein sichtbares Modell für den Lernerfolg im Sport eine Rolle? Ganz klares Ja! Fußballer, jede Hochspringerin oder Rennrodlerin – sie alle schauen sich an, wie es geht. Und das gilt nicht nur für olympische Sportarten. Auch wer die Slackline beherrschen möchte, mit drei Bällen jonglieren will, Frisbee wirft oder Swing tanzt, schaut sich an, wie das geht, lässt es sich zeigen und probiert es dann selbst aus. Man könnte nun meinen, dass sich die Sache für die Lehrerinnen und Lehrer damit geklärt habe und die Dringlichkeit einer guten Demonstration somit feststehe. Aber so einfach ist es nicht, denn es wurde noch nichts darüber gesagt, wie das Vorbild als Medium zwischen Schülerin und Sache in Erscheinung tritt. Obwohl es zu jeder anzustrebenden Profession mittlerweile Lehrvideos gibt, wird ja meist an der Annahme festgehalten, die Sportlehrkraft selbst müsse das meiste ganz toll vormachen können. Mir wurde zugetragen, dass an der Mainzer Universität, an der ich lehre, vor gar nicht langer Zeit der Zehnkämpfer das Ideal der Sportlehrkraft war – der König der Athleten.
Hier möchte ich mal ansetzen mit meiner Dekonstruktion und den Blick aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler auf das Thema richten. Ich war auch mal Schüler in einem Sportunterricht und – no front liebe Sportlehrerinnen und Sportlehrer – kein Jugendlicher will so sein wie ihr. Nein, auch nicht, wenn ihr Zehnkämpfer seid. Dass ihr dennoch ganz entspannt ein Vorbild sein könnt, werde ich später noch ergänzen.
Erwachsenenkörper sind peinlich
Herr Sperling war megacool, den hatten wir in der Grundschule. Er hat uns Vieles vorgemacht und sehr nützliche Dinge beigebracht, wie z. B. in Badebekleidung durch den Schnee zu laufen, bevor es in das schuleigene Lehrschwimmbecken ging. Wenn ich mich recht erinnere, hat der auch mal einen Sprung in die Sandgrube gesetzt und einen Basketball versenkt. Super Typ – alles gut. Herr Hunsicker kam dann auf der weiterführenden Schule und da fand ich diese alten Lehrkörper plötzlich irgendwie für die Demonstration unpassend. Egal wie alt er wirklich war. Er war aus Sicht eines Achtklässlers „uncool“, wenn der da seine Hocke über den Längskasten geschlagen hat mit seinem dunkelblauen Trainingsanzug aus den 70ern und dem lächerlichen Bart, den auch mein Vater sich stehen ließ, oder wenn er einen (Zitat) „Innenseitstoß“ mit dem Fußball präsentiert hat. In Kombination mit solchen Fachbegriffen und dem ständigen Hinweis, dass es „werfen“ und nicht „schmeißen“ heißt, war das alles noch viel weniger cool. Außerdem war ich damals – im Gegensatz zu heute – Olympiafan und da wusste ich natürlich, wie sich ein sportiver Körper bewegt. So viel war klar: Nicht so wie der von Herrn Hunsicker.
Erwachsenenkörper sind immer peinlich. Im Gegensatz zur Jugend – die die Deutungsmacht des Lässigen hat – ist der steuererklärende Erwachsene eine sichtbar funktionale und leicht geschwächte Karikatur des echten Lebens. Immer. Und insofern sollte sich eine Lehrkraft, die von Berufswegen ja schon erwachsen ist, immer gut überlegen, ob sie oder er sich vor der Jugend aufs Reck schwingt und die Hände zum Baggern zusammenlegt. In der Jugend kann man sich ja schon so sein Urteil fällen und weiß mitunter, ob das jetzt ein guter Korbleger war oder nicht. Das gilt vor allem für die Kids mit Leistungsvorsprung. Muss die Lehrkraft der Sekundarstufe also alles ganz super können, besser noch als Annika aus dem Turnen oder Devin aus dem Handballverein? Selbst wenn es so wäre, kommt da ein anderes Problem hinzu, das ich an folgendem Beispiel erklären möchte.
Es lebe der Sportunterricht
Eine sportpädagogische Kolumne von Prof. Tim Bindel
Tim Bindel beobachtet die Welt des Sports und das Leben junger Menschen. Welche Rolle das Demonstrieren im Sportunterricht haben sollte, wird in dieser Kolumne besprochen. Der Professor lädt zum Mitdenken, Dagegenhalten und zum Diskutieren ein; für einen modernen Sportunterricht.
Perfektion eignet sich nur zum Staunen
Wir hatten da mal in der Oberstufe jemandem aus dem Baseballverein zu Gast – jugendliche Aura, cooler Typ. Keiner checkte da irgendwas von diesem amerikanischen Volkssport, also Bühne frei für die Demonstrationsfähigkeit: Hüfte so vor und dann zack. Mega! Aber keiner hat das hingekriegt, so wie der da die Bälle weggeprügelt hat. Da war sofort klar, dass man da nie hinkommen wird und schon gar nicht im Sportunterricht. Unfassbar sperrig und schlecht gemacht schienen uns da die eigenen Körper und schrecklich weit weg vom Demonstrierten. Und für diese Einsicht musste man gar nicht besonders dick, klein oder ungelenk sein. Die Professionalität eignet sich in der Schule vor allem zum Staunen, insofern lernt man seinen Fosbury-Flop besser von Herrn Hunsicker als von Dick Fosbury persönlich und den Korbleger nicht von Dirk Nowitzki, das wäre ja schon von der Größe her lächerlich. Der Profi ist zu krass für die gemeine Schülerin und allemal für den unbegabten Schüler. Man müsste also der Leichtathletin in der Uni quasi beibringen, nicht alles ganz so toll vorzumachen, während man andere dazu anleiten müsste, sich etwas mehr zu bemühen. Was soll denn die Norm der Demonstration sein? Bevor man antwortet, denke man mal bitte an Schülerinnen oder Schüler mit motorischen Defiziten, an Sehbehinderte, an Kinder, die sicher keine Weltmeisterinnen oder Weltmeister werden. So, und damit ist die Demonstrationsfähigkeit schonmal mit äußerster Vorsicht zu genießen.
Fassen wir zusammen: Die Demonstration im Sportunterricht kann peinlich sein, sie kann als fehlerhaft durchschaut werden und sie kann abschrecken.
Wer dennoch als Lehrkraft die Demonstration zum zentralen Lernmodus und zur Grundvoraussetzung für den Unterricht macht, muss sich darüber klar werden, welche Rolle er oder sie damit einnimmt und welche Grundannahmen bezüglich des Gegenstandes Sport dann bestehen. Das möchte ich als nächstes klären, bevor ich mit einem Plädoyer abschließe.
Alles können – das geht nicht
Man wird ja nicht jünger als Lehrkraft und wenn man einmal damit angefangen hat, den Körper in die Begutachtung der Jugend zu geben, dann ist es wie mit dem Haarefärben. Man kann nicht mehr damit aufhören und irgendwann wird es vielleicht peinlich. Bei dem einen wird vielleicht noch geraunt, er sei ja ein wahnsinnig guter Handballer gewesen, damals im Mesozoikum, bei der anderen schaut man halb belustigt halb mitleidig hin, wenn der Körper sich um die Reckstange kringelt. Würdevoll ist das nicht. Macht auch bestimmt total traurig, wenn man nicht mehr so demonstrieren kann, wie man das mal gekonnt hat. Und das ist ja der nächste Haken der Demonstrationsfähigkeit – sie ist furchtbar exklusiv. Nicht alle haben das Zeug dazu. Damit habe ich eigentlich das größte Problem offenbart, denn viele gute Sportlehrerinnen und Sportlehrer gehen jedes Jahr verloren, weil sie denken, dass man da so unglaublich viel körperlich können und vorzeigen muss. Aber das ist schade! Es geht in der ganzen Diskussion nämlich nicht in erster Linie um das Demonstrieren selbst, sondern um das zu Demonstrierende – die Sache den Sport. Die Exklusivität des Demonstrierens ist auch eine des Demonstrierbaren, denn es stellt sich für Lehrkräfte ja die Frage: Welche Inhalte muss ich denn beherrschen? Und einige sind der Meinung, da gibt es eine Liste; ein Curriculum. Und dieser Liste folgend kann dann nur das im Unterricht gemacht werden, was auch in der Lehramtsausbildung erlernt wurde. Um jetzt nicht in eine Lehrplandiskussion abzudriften, kann man das Problem auch personalisieren: Wer das Demonstrieren für wichtig hält, der geht von einem begrenzten Kanon an Sportarten aus und der misst Lernerfolg vor allem an der Nachbildung eines leistungsorientierten Sports. Zwangsläufig führt diese Haltung zu einer Abwertung der individuellen Erfahrung und zu einer Hierarchie der Inhalte. Unterrichtet wird, was individuell beherrschbar ist. Statistisch gesehen kommt dann in Deutschland[1] – zumindest für die Sekundarstufe – eine recht leistungsorientierte Ballspielerei raus, garniert mit den altehrwürdigen Disziplinierungstechniken beim Turnen und wuchtigen Vergleichsproben aus der Leichtathletik, vor allem wenn Männer das Fach unterrichten – ein ordentlicher Diskurswurf muss da also schon sein, allemal wenn es um die Noten geht. Und da die Sozialisation zum und durch das Sportstudium nur selten etwas mit Tanz zu tun hat, haben wir in dieser besonderen Sache, aber auch bei vielen anderen Inhalten ein Problem, das sich kaum dadurch lösen lässt, dass man im Studium alle Kurse belegt, alle Scheine macht und später alle Fortbildungen mitnimmt. Von schlechten Tanzleistungen der Sportstudierenden habe ich aus den Fachseminaren bislang nichts gehört. Sportlehrkräfte, die die gesamte – sich stetig verändernde – Sportkultur im Unterricht thematisieren möchten, müssen sich von der Idee einer zwingenden Demonstrierbarkeit lösen. Für die ästhetischen Fächer gilt: Die Meisterschaft besteht nicht darin, alles zu können, sondern alles zu wollen. Und damit kommen wir zum Abschlussplädoyer.
Bock auf Sport
Ja, sollen die Sportlehrerinnen und Sportlehrer jetzt gar nichts mehr können? Kann das dann jeder machen?Wie steht man denn vor den Schülern da, wenn man selbst keinen Korbleger kann? Okay, ganz ruhig… Die Demonstration an sich ist ja im Grunde nicht an das Können der Lehrkraft gekoppelt. Da helfen Tutorials, Filmmaterial und Expertinnen und Experten aus der Schülerschaft oder in ferner Zukunft ein Hologramm von Astrid Kumbernuss zu Gast auf deinem Sportplatz. Am Demonstrieren sollte man aber durchaus festhalten. Jedoch muss eine Bedeutungsverschiebung stattfinden. Es kann nicht um ein Abbild als Leitbild gehen, was die Lehrkraft letztendlich sogar ersetzen würde, sondern um ein Zeigen und Veranschaulichen. Das ist nur begrenzt und nicht immer zwingend könnensbasiert. Die Frage, was ein guter Meister oder eine Meisterin ist, wurde in der Erziehung und der ästhetischen Bildung z.B. auch mit dem Modell des Mâitre Ignorant beantwortet, der die Sache nicht beherrscht, sondern der sie mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam erschließt. Wir wissen, dass diese Form der Seminarführung z. B. bei Studierenden gut in Erinnerung bleibt.
In vielen Bereichen des Sports geht es nicht darum, die Dinge abbildgetreu vor- und nachzuturnen, sondern darum, sich mit Freude der spielerischen Bewegung hinzugeben, dem Wettlauf, dem Ballspiel, dem Trampolinsprung, dem Longboard, dem Wasser, dem Schnee und auch dem Barren.
Bindel, 2022
Und genau dafür braucht es ein Vorbild im Schulsport, das einen mitnimmt und versichert, dass Sport etwas ist, das für jeden da ist. Und da entsteht eine Rolle, die einem Sportlehrer und einer Sportlehrerin gut zu Gesicht steht, die kein Clown ist und kein Veteran, sondern eine Person, die Bock hat. Und wer Bock hat, kann was und kann das natürlich auch vormachen. Aber der kann auch etwas mal nicht so gut können. Die kann auch mit den Schülern gemeinsam was Neues erlernen, die kann auch scheitern. Die kann lachen und jubeln. Bock alleine reicht natürlich nicht, um Sportlehrkraft zu sein. Es sind Erfahrungen verlangt, die im Studium gemacht werden, es ist Motivationsfähigkeit verlangt, das Wissen, wie man etwas vermittelt, wann man zeigt, wann man zeigen lässt, wann man selbst zum Lernenden wird. Demonstrationsfähigkeit ist dann wertvoll, wenn sie nicht als bedingungslose Voraussetzung fehlgedeutet wird, sondern als eine Möglichkeit neben anderen, eine Karte, die man ziehen kann, um als Pädagogin oder Pädagoge im Sportunterricht Wirkung zu erzielen. Aber mit Verlaub, Sportlehrkräfte sind keine Superhelden, keine Olympioniken in allen Disziplinen. Und unser Ziel an der Uni ist es, Persönlichkeiten auszubilden, die mit dem Sport etwas für die Erziehung und Bildung junger Menschen tun. Mir ist da ganz ehrlich lieber, die Studierenden demonstrierten gegen Rechts, als am Barren. Da hab‘ ich doch Recht, oder?
Mir ist da ganz ehrlich lieber, die Studierenden demonstrierten gegen Rechts, als am Barren. Da hab‘ ich doch Recht, oder?
Bindel, 2022
[1] Bspw. DSB-Sprint-Studie (2006). Eine Untersuchung zur Situation des Schulspots in Deutschland. Aachen: Meyer & Meyer.
Der Autor
Tim Bindel lehrt als Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in der Abteilung Sportpädagogik/-didaktik und ist geschäftsführender Leiter am Institut für Sportwissenschaft. Tim Bindel beschäftigt sich mit Fragen des Kinder- und Jugendsports, der sozialen Verantwortung durch Sport und der Gestaltung von Sport und Unterricht. Er ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (Kommission Sportpädagogik) und hat den Vorsitz der dvs-Kommission Sport und Raum inne. Zusammen mit Christian Theis hat er den Podcast one and a half sportsmen gegründet.
Impressum
Dieses Dokument korrekt zitieren:
Bindel, Tim (2022). Kolumne – Es lebe der Sport. Folge 3: Demonstrieren – lieber für Menschenrechte als am Reck. Zugriff am 21.11.2024 unter https://wimasu.de/demonstration-im-sportunterricht/
Redaktion und Herausgeberschaft: Janes Veit und Christoph Walther
Illustrationen/Grafiken: Julia Schäfer