In der Klasse 4a befinden sich 22 Kinder. In dieser heterogenen Lerngruppe befinden sich auch zwei Kinder, denen ein Förderschwerpunkt zugewiesen ist. Ruth ist hochgradig sehbehindert und kann Arbeitsblätter nur lesen, wenn sie mit Schriftgröße 20 gedruckt sind. Lennart hat eine Lernbehinderung und benötigt einfache Sprache, um mit Lernmaterialien umgehen zu können.
In der kommenden Sportstunde möchte die Lehrkraft ein Arbeitsblatt austeilen, auf dem sich drei Bewegungsbilder der Rolle vorwärts mit erläuternden Hinweisen befinden. Ob sich in dieser Unterrichtssituation ein inklusives Setting entwickelt oder ob das Unterrichtssetting die Schülerinnen und Schüler behindert, liegt neben der generellen Gestaltung der Lernumgebung auch an der Qualität des Lernmaterials, das die Lehrkraft vorbereitet. Sind Schrift und Bilder zu klein oder der Text zu kompliziert, wirken sich die individuellen Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler letztlich nur deshalb – aber unnötig(!) – behindernd aus und verhindern damit Teilhabe, weil die Lehrkraft nicht adäquat auf die Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler eingegangen ist.
Den Beitrag als pdf downloadenMr. WIMASU: Worum geht es beim inklusiven Sportunterricht eigentlich?
Martin Giese: Im Hinblick auf den schulischen Sportunterricht bedeutet Inklusion primär, dass zukünftig mehr Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen in der allgemeinen Schule gemeinsam beschult werden. Um dieses Ziel zu erreichen, befindet sich das deutsche Schulsystem momentan in einem Umstrukturierungsprozess, der die aktuelle Schul- und Bildungslandschaft in einer bisher nicht gekannten Form verändert.
Mr. WIMASU: Warum geht mich das etwas an?
Martin Giese: Nun, da gibt es neben einer (a) formal juristischen sicherlich auch eine (b) persönliche Antwortebene.
(a) Formal juristischer Hintergrund ist, dass die deutsche Bundesregierung 2009 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, die sog. UN-Behindertenrechtskonvention (kurz: UN-BRK), ratifiziert hat, und mit der oben skizzierten Umgestaltung des Schulsystems ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen versucht. Besonders erwähnenswert erscheint mir dabei, dass Inklusion keine pädagogische Modeerscheinung ist, die – wie manche andere pädagogische Welle – wieder verebbt, wenn Lehrkräfte die Klassentür nur lange genug hinter sich geschlossen halten. Die Frage, ob du Inklusion im schulischen Kontext möchtest oder nicht, stellt sich (zumindest auf dieser Ebene) nicht.
(b) Diese bildungspolitische Setzung verweist auf die normative Annahme, dass wir Lehrkräfte – auch im Handlungsfeld Bewegung, Spiel und Sport – einen aktiven Beitrag dazu leisten sollten, die Ausgrenzung von marginalisierten und diskriminierten Gesellschaftsgruppen zu überwinden. Unabhängig davon ist es für dich persönlich – ob du dafür nun ausgebildet wurdest oder nicht – wichtig, zunehmende Heterogenität als pädagogische Herausforderung zu verstehen, der es sich nicht zuletzt aus Gründen deiner eigenen Lehrergesundheit positiv anzunehmen lohnt, weil du dich diesen Anforderungen nicht entziehen kannst und die Qualität des inklusiven Unterrichts eng mit einer positiven Einstellung gegenüber der Inklusion korreliert (Hutzler, Meier & Reuker, 2017).
Mr. WIMASU: Ergibt die gemeinsame Beschulung denn überhaupt Sinn?
Martin Giese: Eine schwierige Frage. Im Umkehrschluss ließe sich zunächst sagen, dass die getrennte Beschulung keine grundsätzlichen Vorteile zu bieten scheint. In unterschiedlichen Studien konnte vielmehr gezeigt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler von der gemeinsamen Beschulung zu profitieren scheinen. Außerdem ist sie auch international der Regelfall (Block, Giese & Ruin, 2017). Ob sich diese Zusammenhänge allerdings für alle Schülerinnen und Schüler verallgemeinern lassen, ist durchaus unklar. Auch wenn hier noch viel Forschungsbedarf existiert, erscheint dagegen zentral, dass spätestens seit den 1970er-Jahren offensichtlich ist, dass die getrennte – im Fachdiskurs sprechen wir von einer segregativen – Beschulung besondernde Biographien befördert (Sonderkindergarten-> Sonderschule -> Werkstatt für Menschen mit Behinderungen -> Wohnheim) und der Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen dadurch systematisch untergraben wird. Außerdem ist empirisch gut belegt, dass insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen und Geistige Entwicklung die Zuweisung eines solchen Förderschwerpunkts eine dauerhaft stigmatisierende Wirkung entfaltet, die Teilhabe nachhaltig behindert (Ahrbeck, 2016).
Mr. WIMASU: Ist die Konsequenz daraus, dass jetzt alle Förderschulen aufgelöst werden?
Martin Giese: Diese Frage ist bis dato ungeklärt und überaus komplex. Vertreter einer sog. radikalen Inklusion plädieren dafür, dass es kein paralleles Förderschulsystem geben kann, weil es den Status quo fortschreibt und dass wirklich alle(!) Förderschulen aufgelöst werden, damit wirklich alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden, wie es in der Grundschule ja weitestgehend der Fall ist. Vertreter einer sog. moderaten Inklusion plädieren dagegen dafür, dass zwar mehr Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderungen als bisher gemeinsam unterrichtet werden sollten, dass es aber ein paralleles Förderschulsystem geben sollte, damit den Eltern die Wahl zwischen unterschiedlichen Beschulungsformen gegeben ist.
Mr. WIMASU: Was bedeutet Inklusion für meine Unterrichtspraxis?
Martin Giese: Für deine zukünftige Unterrichtstätigkeit bedeutet Inklusion, dass du zunehmend mit einer neuen Dimension von Heterogenität konfrontiert sein wirst, für die du wahrscheinlich nicht ausgebildet worden bist. Damit ist insbesondere gemeint, dass Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedürfnissen in deinen Lerngruppen sein werden, die dir bisher wahrscheinlich noch nicht begegnet sind, z. B. Kinder mit enormen Hörschwächen oder einem sehr geringen Sprachverständnis.
Mr. WIMASU: Hast du persönliche Empfehlungen für den Umgang mit der Inklusion?
Martin Giese: Zuallererst würde ich sagen, dass du beim inklusiven Sportunterricht keine Berührungsängste haben solltest. Auch wenn inklusive Settings im Einzelfall hochkomplex sein können, ist die einzige universelle Regel, die es meines Erachtens gibt, dass du mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern und mit den Eltern ins Gespräch kommen solltest. Überwinde ggf. vorhandene Berührungsängste und suche den direkten Austausch, was möglicherweise hilft und welche Unterstützungsmaßnahmen wirklich gewünscht werden.
Der zweite Rat wäre, dass du dich nicht von absoluten Ansprüchen an Inklusion einschüchtern lassen solltest. Jeder Schritt in Richtung mehr Teilhabe ist ein Gewinn für alle Beteiligten. Näher dich der Thematik mit kleinen Schritten und stecke dir realistische Ziele.
Mein dritter Rat: Inklusiver Sportunterricht ist eine Teamaufgabe. Suche dir Mitstreiterinnen und Mitstreiter und Unterstützung (Eltern, Schülerinnen und Schüler, Beratungszentren, Kolleginnen und Kollegen, Schulleitung etc.), damit du dich austauschen kannst. Gerade für die Kolleginnen und Kollegen an den allgemeinen Schulen bzw. an den Gymnasien ist das am Anfang häufig ungewohnt.
Mr. WIMASU: Wo und wie erhalte ich Unterstützung?
Martin Giese: In allen Bundesländern existieren für alle Förderschwerpunkte Beratungszentren, deren Aufgabe es ist, sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte im inklusiven Sportunterricht zu unterstützen. Diese Beratungszentren sind auch die Ansprechpartner, wenn es um Fragen nach der zielgleichen bzw. zieldifferenten Beschulung oder um Fragen nach der barrierefreien Aufbereitung von Unterrichtsmaterialien geht.
Abschließend möchte ich noch mal auf das Eingangsbeispiel zurückkommen, das zeigen soll, dass mehr Teilhabe häufig schon durch kleine Änderungen wie einer veränderten Schriftgröße hergestellt werden kann, die ggf. weder viel Arbeit kosten noch für Schülerinnen und Schüler ohne Behinderungen etwas am Unterricht verändern. Wichtig – und das zeigen auch eine Vielzahl an internationalen Forschungsergebnissen – ist die innere Haltung bzw. Bereitschaft, für solche Aspekte sensibel zu sein.
Mr. WIMASU: Gegenfrage: Welche Einstellung findest du zur Inklusion?
Martin Giese: Ein inklusiver Sportunterricht kann wertvolle Beiträge leisten, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an unserer (Bewegungs-)Kultur zu fördern. Stehen für die Umsetzung eines inklusiven Sportunterrichts inzwischen vielfältige Unterrichtsmodelle zur Verfügung, ist allerdings grundsätzlich zu beachten, dass nicht zuletzt die Einstellungen der Lehrkräfte zur Inklusion für den Erfolg maßgeblich sein werden. Der vorliegende Artikel soll in diesem Sinne Mut machen, sich auf den Weg zu machen und eventuell vorhandene Unsicherheiten oder Berührungsängste in Bezug auf den eigenen (Sport-)Unterricht und Menschen mit Behinderungen zu überwinden.
Weiterführende Literatur
Ahrbeck, B. (2016). Inklusion. Eine Kritik. Kohlhammer.
Block, M.; Giese, M. & Ruin, S. (2017). Inklusiver Sportunterricht – eine internationale Standortbestimmung. Sonderpädagogische Förderung heute 62 (3), 233-243.
Hutzler, Y; Meier, S. & Reuker, S. (2017). Einstellung von Sportlehrkräften zu inklusivem Sportunterricht – mögliche Bezugspunkte (inter-)nationaler Forschung. Sonderpädagogische Förderung heute 62 (3), 244-254.
Der Autor
Dr. Martin Giese ist Lehrer an der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. in Marburg.
Impressum
Dieses Dokument korrekt zitieren:
Giese, M. (2017) INKLUSION IM SPORTUNTERRICHT. Zugriff am 21.11.2024 unter https://wimasu.de/inklusion/
Illustrationen/Grafiken: Nao Matsuyama, Julia Schäfer
Herausgeber: Christoph Walther & Janes Veit
Lektorat: K. Heinz; L. Boe