Wenn Mädchen Tore doppelt zählen… 

Ein Gastbeitrag

von Stella – 11. Klasse, Schülerin aus Nordhessen
und Paradies – Lehrerin und Teil des WIMASU-Teams.

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„Mädchentore zählen doppelt.“ 
„Vor dem ersten Korbwurf müssen alle Mädchen einmal den Ball berührt haben.“  
„Die Jungs spielen nur mit links.“ 

Koedukativer Unterricht war besonders bezogen auf das Fach Sport für Lehrkräfte eine Herausforderung. „Mädchentore“, „Mädchenliegestütz“ oder „Mädchenbälle“ galten früher als „gute“ Idee, um Fairness herzustellen. Nun zum Problem: Es ist 2023. Geschlechterbasierte Regeln verbildlichen Stereotype und das Bild haftet. Dieser Beitrag klärt auf, warum diese Regeln veraltet sind und im modernen Sportunterricht keine Verwendung mehr finden sollten. 

 Was ist das Problem?

Stella, Schülerin in der 11. Klasse 

Aus Sicht einer Schülerin kann ich berichten, dass ich in meiner bisherigen Schullaufbahn von keinem Mädchen in meinem Umfeld mitbekommen habe, dass sie Sonderregeln bezogen auf das Geschlecht befürworten oder sich dadurch unterstützt fühlen. Geschlechterspezifische Regelungen können eine regelrechte Spaltung der Lerngruppe bedeuten. Ich erlebe es als kontraproduktiv, eine Regel aufzustellen, die beispielsweise besagt, dass bei Sportspielen mindestens ein Drittel eines Teams aus Mädchen bestehen muss. Das Problem, dass wir Mädchen in bestimmten Sportarten oder innerhalb des Unterrichts unterrepräsentiert sind oder systematisch ausgegrenzt werden, lässt sich meines Erachtens nicht dadurch lösen, dass man eine bestimmte Anzahl an weiblichen Personen festlegt, die miteinbezogen werden müssen.  

Deine Tore zählen doppelt, aber nur, wenn du ein Mädchen bist…

Die Einführung von besonderen Regelungen wie beispielsweise Mädchentoren festigt bei mir den Eindruck, dass die Mädchen weniger vollwertige Team-Mitglieder sind und zugleich eine unausgeglichene Gruppendynamik gefördert wird. Die, zunächst gut gemeinte Idee doppelt zählendender „Mädchentore“ bietet keinen fairen Rahmen, sondern könnte sogar taktisch missbraucht werden, um mehr Tore zu erzielen: Eine Schülerin, die grundsätzlich lieber in der Abwehr agieren möchte, wird direkt vor das Tor positioniert und soll lediglich den von ihren Mitschülern davor platzierten Ball in das Tor schießen. Weiterhin wird es als unfair erachtet, wenn Fußballerinnen aufgrund ihrer Erfahrung mit der Sportart viele Tore erzielen. Gleichzeitig zählen in diesem Szenario die Tore von ballsporterfahrenen gegenüber unerfahrenen Jungen gleich viel. Die Mädchentor-Regel setzt also aufgrund des Geschlechts voraus, dass die Mädchen im Spiel weniger einbezogen würden oder deren Tore ohnehin weniger wahrscheinlich wären. Somit werden nicht nur spielerfahrene Schülerinnen systematisch unterschätzt, sondern auch unerfahrenere Schüler nicht berücksichtigt. Der reflektierte Leser kann sich ausrechnen, wieviel ein Sieg im Turnier zählt, wenn dieser „nur“ durch doppelt zählende Mädchentore erreicht wurde.

Der Sportunterricht muss von vornherein darauf ausgerichtet werden, allen Sportler:innen das gleiche Beteiligungsrecht zu ermöglichen und diese Regeln ermöglichen dies nicht! 

Warum ist es ein Problem?

Paradies, Lehrerin 

Als Lehrkraft sehe ich die Verantwortung und Aufgabe bei mir, eine Lösung für die Leistungsheterogenität innerhalb des Sportunterrichts zu finden UND für ein gutes Klassenklima zu sorgen. Mädchen und Jungen voneinander zu trennen, damit der Unterricht vermeintlich besser funktioniert und um Leistungsgefälle zu überbrücken, wird dem erziehenden Sportunterricht und dem Doppelauftrag (vgl. Scheid & Prohl, 2017, 195), nicht gerecht. 

Wenn die „starken Jungs“ die Bank wegtragen sollen, oder die Schülerinnen zur Entlastung auch „Mädchenliegestütz“ im Fitnesszirkel machen dürfen, werden die Jungen selbstverständlich überlegen dargestellt. Wenngleich sich diese Überlegenheit für den Augenblick auf den Sportunterricht beschränkt, so festigt es das Bild des starken Jungen und des schwächeren Mädchens bei Heranwachsenden nachhaltig. Dies bedeutet nicht, dass Differenzen grundsätzlich gänzlich außer Acht gelassen werden können. Differenzierungen sind unabhängig vom Schulfach unabdinglich für den modernen Unterricht. Jedoch sollte bei der Planung und Umsetzung des Sportunterrichts stets hinterfragt und reflektiert werden, welche Funktion und welchen Hall gewisse Maßnahmen haben.  

Fazit: Mädchentore abschaffen und was dann? 

Paradies: Regeln, deren Grundlage einzig das Geschlecht ist, sind nicht sensibel gegenüber der Individualität unserer Schüler:innen. Ein gutes Lernklima, das alle Kinder wertschätzt, kann besser über eine passende Unterrichtsinszenierung erschaffen werden, bei der allgemein die Fairness im Fokus steht. Dabei helfen auch mal homogene Gruppen, kleinere Teams, Rollenverteilungen oder das Arbeiten mit Handicaps bzw. Procaps zur Differenzierung. Über deren Einsatz bzw. Nicht-Einsatz sollten die Spielenden entscheiden und nicht die Lehrkraft. 

Heterogenität kann ebenfalls als Chance für die Umsetzung von Unterrichtsvorhaben genutzt werden, indem bspw. erfahrenere Schüler:innen sich als Expert:innen in die Durchführung involvieren, Ratschläge geben, als Schiedsrichter:innen ihre Expertise einbringen, Bewegungsausführungen aufzeigen und die Lehrkraft als Unterrichtspartner:innen unterstützen.

Stella: Als Schülerin wünsche ich mir, dass eine Lernumgebung geschaffen wird, in der Schüler:innen unabhängig vom Geschlecht nach Leistungsfähigkeit und persönlicher Entwicklung beurteilt werden. Maßnahmen, die es zum Ziel haben, alle Schülerinnen und Schüler miteinzubeziehen, sollen sich auch an alle Schülerinnen und alle Schülerrichten und dabei davon absehen, sich am Geschlecht zu orientieren, damit es nicht unterbewusst zu einer Verstärkung von Stereotypen kommt.  

Literatur

Scheid, V. & Prohl R. (Hrsg.): Sportdidaktik. Grundlagen Vermittlungsformen Bewegungsfelder, 2. Aufl., Wiebelsheim, Deutschland: Lim- pert, 2017, S. 195.

Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, 7. Aufl., Weinheim: Deutschland: Beltz Verlag, 2012, S. 231.

Die Autoren

Stella ist Schülerin in der 12. Klasse eines Gymnasiums und engagiert sich als Schüler:innenvertreterin an einer Schule in Nordhessen. Paradies ist Sportlehrerin am Gymnasium in Nordhessen und Teil des WIMASU-Teams.

Impressum

Dieses Dokument korrekt zitieren:

Bathaee, P., Cueto Silva, S. (2023). Wenn Mädchentore doppelt zählen… Zugriff am 28.04.2024 unter https://wimasu.de/wenn-maedchen-tore-doppelt-zaehlen/

Illustrationen/Grafiken: Nao Matsuyama, Julia Schäfer
Herausgeber: Christoph Walther & Janes Veit
Lektorat: Simon Drosten