Etwas wagen im Sportunterricht

Im Gegensatz zu den im Sportunterricht etablierten Perspektiven „Gesundheit“, „Leistung“ oder „Miteinander“ wirkt die Wagnisperspektive irgendwie sperrig. Zumindest wird sie bislang bei der Planung und Durchführung des Sportunterrichts wenig beachtet (Schmoll, 2005) und oftmals um pädagogisch relevante Lernziele beschnitten (Böttcher, 2016). Sowohl für die Unterrichtsplanung als auch für die Unterrichtsdurchführung ergeben sich daher einige substanzielle Fragen: Was ist überhaupt ein Wagnis im Sport? Ist ein Wagnisanspruch im Sportunterricht nicht (zu) gefährlich? Was sollen die Schülerinnen und Schüler dabei lernen und wie sollen Wagnisse im Sportunterricht vermittelt werden? Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf der Klärung solcher unterrichtsdidaktischen Fragen.

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Was ist ein Wagnis im Sport?

Unter einem Wagnis wird eine unsichere Bewegungssituation verstanden, in der eine Schülerin oder ein Schüler – freiwillig und basierend auf dem eigenen Bewegungskönnen – entscheidet und handelt. Als Beispiel kann eine Balancierstation dienen, bei der eine umgedrehte Langbank auf zwei großen Turnkästen aufliegt, die mit Hilfe von Turnmatten abgesichert ist. Die Unsicherheit des Ausgangs (Gelingen oder Misslingen) und die antizipierten Folgen (Unversehrtheit oder Verletzung) erfordern von den Schülerinnen und Schülern Mut, sich auf diese besonderen Handlungsanforderungen einzulassen.

Wagnisse – auch die beim Balancieren – unterscheiden sich weiterhin in ihrer jeweiligen Schwierigkeit und in ihrer „Fallhöhe“ (den potenziell negativen Folgen im Falle des Scheiterns), wobei das Erleben von Angst und die Wahrnehmung von Bedrohung subjektiv sehr unterschiedlich sind.

Ein so verstandenes Wagnis im Sport lässt sich mit fünf Merkmalen charakterisieren:


1. Subjektive Betroffenheit

Ob unsichere Handlungssituationen als Wagnisse wahrgenommen und eingegangen werden, hängt ab von den individuellen Vorerfahrungen, Kompetenzen und Dispositionen.


2. Könnensabhängige Bewältigung

Im Unterschied zu den in der Erlebnispädagogik verwendeten Vertrauensaufgaben (z. B. trust fall) basiert die Bewältigung von Bewegungswagnissen vorrangig auf individuell vorhandenen und eingesetzten motorischen Kompetenzen (z. B. Balancierfähigkeit).


3. Physische Versehrtheit

Im Falle eines Misslingens können negative körperliche Folgen (z. B. Verletzungen) eintreten. Bewegungswagnisse sind real und unterscheiden sich von virtuellen Abenteuersituationen.


4. Basales Vertrauens- und Verantwortungsverhältnis

Wenn Bewegungswagnisse eingegangen und bewältigt werden, geschieht dies nicht nur auf der Basis eines gesunden Selbstvertrauens, sondern oftmals auch im Vertrauen auf ein verantwortungsbewusstes Sichern anderer Personen und im Zutrauen auf ein verlässliches Equipment.


5. Dreistufiger
Handlungsprozess

Wagnisse ergeben sich im Sport nicht von allein, sondern sie müssen erstens aufgesucht, d. h. aktiv hergestellt oder wahrgenommen werden. Zweitens müssen sie ausgehalten, d. h. akzeptiert und eingegangen werden. Und drittens müssen Wagnisse aufgelöst, d. h. beendet und bedacht werden.


Wagnisse im Sport aufzusuchen, auszuhalten und aufzulösen erfordert oftmals eine Portion Mut und einen Selbstvertrauensvorschuss. Bewegungswagnisse sind aber nicht mit so genannten „Mutproben“ oder „Mutposten“ gleichzusetzen oder zu verwechseln, da Mutproben den sozialen Vergleich bemühen, um die Handlungsentscheidungen des Einzelnen eindimensional auf einer Mutskala zu bewerten: Wer Mutproben eingeht, zeigt sich „mutig“. Wer Mutproben nicht eingeht, gilt als „feige“ oder als „Angsthase“. Somit wird, wer sich mutig und begründet gegen die Probe entscheidet, letztlich gedemütigt! Die im Sportunterricht angeleitete Auseinandersetzung mit sportlichen Wagnissen ist folglich nicht auf die Erprobung des eigenen Mutes zu reduzieren.

Warum sollen Schülerinnen und Schüler im Sportunterricht etwas wagen?

Diese Frage lässt sich allgemein mit Blick auf die Befähigung zum Handeln im Sport und die Förderung der Entwicklung beantworten und speziell mit Blick auf die angeführten Merkmale sportlicher Wagnisse.

Allgemein lässt sich so argumentieren: Wenn und weil Kinder und Jugendliche im Sportunterricht in die aktuelle Bewegungskultur eingeführt und darin zu einem kompetenten Handeln befähigt werden sollen (Erziehung zum Sport), müssen sie auch vorbereitet werden, sich in sportlichen Wagnissituationen zu behaupten und zu bewähren. Wer beispielsweise (zu viel) Angst vor Stürzen hat, wird sich beim Klettern vermutlich nicht an seiner Sturzgrenze bewegen und deshalb kaum in der Lage sein, sein individuelles Niveau der erreichten Kletterschwierigkeit zu steigern. Vielleicht bleibt ihm oder ihr der Zugang zu diesem Handlungsfeld auch ganz verschlossen. Zudem können Kinder und Jugendliche durch die Auseinandersetzung mit Wagnissen in ihrer (motorischen, sozialen, kognitiven) Entwicklung gefördert werden (Erziehung durch Sport). Die Bewältigung sportlicher Wagnissituationen, beispielsweise das sturzfreie Befahren eines individuell schwierigen (steilen oder vereisten) Pistenabschnittes oder das Fahren abseits der präparierten Piste, kann als eine intensive Form der Selbstvergewisserung und der Selbstwirksamkeit verstanden werden und das individuelle Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl stärken. Die erlebte Bedrohung im Wagnis und die möglichen negativen Folgen des Scheiterns verleihen dem gewagten Handeln dabei seinen besonderen Wert für die Person.

Speziell lässt sich so argumentieren: Die subjektive Betroffenheit sportlicher Wagnisse verweist auf eine Ich-Bezogenheit und Ich-Bedeutsamkeit; ein sportliches Wagnis einzugehen, bedeutet, sich im Rückgriff und im Vertrauen auf das eigene Können gegenüber dieser Exponiertheit zu entscheiden. Zu erwarten sind aufgrund der subjektiven Betroffenheit und Exponiertheit starke Erlebnisse und zu erhoffen sind selbstermutigende Erfahrungen. Da es auf mein Können und meine Fähigkeiten ankommt, ob und inwieweit ich dem jeweiligen Wagnis gewachsen bin oder nicht, kann der Anspruch und die Erkenntnis abgeleitet werden, dass ich mein Wissen und Können schrittweise steigern muss, um Wagnisse immer sicherer zu bewältigen (also deren Risiko zu mindern) oder um die Schwierigkeit von Wagnissen angemessen zu erhöhen. Das Potenzial und das Primat der physischen Versehrtheit gilt es zu wahren und zu beachten, um einem immer auch möglichen leichtfertigen und leichtsinnigen Umgang vorzubeugen und um einen verantwortungsbewussten Umgang mit Bewegungswagnissen zu erlernen. Das basale Vertrauens- und Verantwortungsverhältnis ist eng verbunden mit deren pädagogischer Ambivalenz: Die Schülerinnen und Schüler sollen sich nicht kopflos Gefahren aussetzen, sondern sie sollen (selbst)kritisch abwägen und reflektieren, ob und inwieweit ihre individuell verfügbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten ausreichen, um die Herausforderungen des jeweiligen Wagnisses anzunehmen oder abzulehnen. Dieser Schritt sollte wohlüberdacht und bewusst erfolgen und nicht – verantwortungslos – dem sozialen Druck der Gruppe oder der Hoffnung auf Anerkennung geschuldet sein. Deshalb ist bei der Vermittlung von Bewegungswagnissen im Sportunterricht der Blick auf den dreistufigen Handlungsprozess zu lenken, um wichtige Schritte der Selbstermutigung und Selbstbestätigung gehen zu können: Wagnisse im Sport lernt nur zu schätzen und aufzusuchen, wer weiß und gelernt hat, wie Wagnisse aktiv hergestellt, (sicher und gesichert) ausgehalten und überlegt abgeschlossen werden können.

Abb. 2: Etwas wagen im Sportunterricht

Was sollen die Schülerinnen und Schüler beim verantwortungsbewussten Wagen lernen?

Interessanterweise finden sich sowohl in curricularen als auch in fachdidaktischen Veröffentlichungen zur Wagnisperspektive im Sportunterricht in erster Linie entwicklungsförderliche Zielstellungen. Dies ist insofern erstaunlich, als sich solche Zielstellungen deutlich schwieriger in der Praxis des Sportunterrichts anbahnen und bewerten lassen als jene Ziele, die beispielsweise mit dem Erlernen wagnissportlicher Bewegungstechniken in Verbindung stehen (Conzelmann, Schmidt & Valkanover, 2011, S. 198-203).

Im Kern werden insbesondere die folgenden Transferziele genannt, die nicht mit der Ausübung einer bestimmten Sportart verbunden sind (Neumann & Katzer, 2011, S. 18f.):

  • Mit angstbesetzen Bewegungssituationen souverän umgehen, eigene Ängste erkennen, eingestehen und überwinden können (Umgang mit Angst und Unsicherheit).
  • Sich in der Wagnissituation helfen lassen und anderen verlässliche und vertrauensvolle Hilfe geben können (Vertrauen und Verantwortungsübernahme).
  • Gesundheitliche Risiken bei gewagten Aktivitäten erkennen, einschätzen und eine reflektierte und verantwortungsbewusste Entscheidung treffen und vertreten können (Selbstverantwortung).

Für den Erwerb und die Ausübung wagnissportlicher Bewegungsaktivitäten können die folgenden Zielbereiche ausgewiesen werden, die jeweils inhaltsspezifisch auszuformulieren sind:

  • Erwerb und Anwendung sportart- oder bewegungsfeldspezifischer Bewegungstechniken oder Bewegungstaktiken (z. B. Bremsmanöver beim Mountainbiken).
  • Kenntnis und Anwendung von sportart- oder bewegungsfeldspezifischen Sicherheits- und Hilfestellungen (z. B. Sicherungstechniken beim Klettern).
  • Kenntnis und Beachtung sportartspezifischer Sicherheits- und Handlungsregeln (z. B. FIS-Regeln beim Schneesport).
  • Kenntnis und sachgerechte Nutzung von Sportgeräten (z. B. Besonderheiten von Scooter und Stunt-Scooter).
  • Kenntnis und Beteiligung am jeweiligen Geräteaufbau und Geräteabbau (z. B. Aufbau und Absichern eines Trampolins).

Wie sollten Planung und Gestaltung des Sportunterrichts unter der Wagnisperspektive angelegt werden?

Wagnisse im Sportunterricht können explizit als Unterrichtsgegenstand thematisiert werden (z. B. im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum Splashdiving) oder sich situativ als Begleitphänomen ergeben (z. B. im Rahmen einer Unterrichtsreihe zum Rollerfahren im Sportunterricht). Aus sportpädagogischer Sicht laufen beide Unterrichtsreihen „Gefahr“, nur eine sehr lose (oberflächliche) Verbindung zwischen dem jeweiligen Inhalt und dem anvisierten Unterrichtsziel zu verfolgen, wenn bei der Durchführung einer entsprechenden Unterrichtsreihe nicht entlang der idealtypischen Phasen des Wagnisprozesses (Aufsuchen – Aushalten – Auflösen) gearbeitet wird.

Die folgenden Fragen aus der Perspektive der Lernenden sollen verdeutlichen, in welcher Richtung der Sportunterricht dazu Antworten generieren sollte:

Ausblick 

Angesichts der Dominanz der Leistungsperspektive im Sportunterricht hat es die Wagnisperspektive augenscheinlich schwer, über den fragilen Status einer „Nebenperspektive“ hinauszukommen. Die aus Lehrerinnen- und Lehrersicht offensichtliche Ambivalenz (Neumann, 2013) sowie die besonderen Schwierigkeiten im Umgang mit einer angemessenen Benotung und Bewertung erschweren eine gleichrangige Behandlung und Betrachtung im Sportunterricht. Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern (Erziehungsberechtigten) haben schließlich ein Recht darauf, dass beim Besuch der Schule und des Sportunterrichts Leib und Leben unversehrt bleiben, auch wenn Verletzungen und Unfälle im Sportunterricht nicht ausgeschlossen werden können.  Die Belohnung für die Thematisierung von Wagnissen im Sportunterricht liegen in einer motivierten Schülerschaft, besonderen Lernerlebnissen und gestärkten Schülerinnen und Schülern, wenn das Wagnis mit Bedacht vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet wird.

Literatur

Böttcher, A. (2016). „Etwas wagen und verantworten“ – Anspruch und Wirklichkeit einer pädagogischen Perspektive. In D. Wiesche, M. Fahlenbock & N. Gissel (Hrsg.), Sportpädagogische Praxis – Ansatzpunkt und Prüfstein von Theorie (28. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportpädagogik vom 30. April – 2. Mai 2015 in Bochum) (S. 201-208). Hamburg: Czwalina.

Conzelmann, A., Schmidt, M. & Valkanover, S. (2011). Persönlichkeitsentwicklung durch Schulsport. Theorie, Empirie und Praxisbausteine der Berner Interventionsstudie Schulsport (BISS). Bern: Huber.

Neumann, P. (2013). Didaktische Erläuterungen und Empfehlungen zur Perspektive „Wagnis“. In P. Neumann & E. Balz (Hrsg.), Sportdidaktik. Pragmatische Fachdidaktik für die Sekundarstufe I und II (S. 83-90). Berlin: Cornelsen.

Neumann, P. & Katzer, D. (2011). Etwas wagen und verantworten im Schulsport. Didaktische Impulse und Praxishilfen. Aachen: Meyer & Meyer.

Schmoll, L. (2005). Unterrichtsplanung mit dem Sportlehrplan für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen – Qualitative Analysen der subjektiven Planungsarbeit von Sportlehrkräften in der zweiten Ausbildungsphase. Bochum: Dissertationsschrift.

Die Autoren

Peter Neumann ist Professor für Sportpädagogik, er hat viele praxisbezogene Beiträge (Frisbee, Klettern, Roller, Trendsport) und didaktische Texte u. a. zum mehr- perspektivischen Sportunterricht veröffentlicht. Persönlich und beruflich faszinieren ihn wagnisbezogene Outdoor-Sportarten.

Impressum

Dieses Dokument korrekt zitieren:

Neumann, P. (2017). Etwas wagen im Sportunterricht. Titel. Zugriff am 26.04.2024 unter https://wimasu.de/wagnis/

Illustrationen/Grafiken: Nao Matsuyama, Julia Schäfer
Herausgeber: Christoph Walther & Janes Veit

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